Dr. Nicole Satzinger im Interview
Seit zwei Jahrzehnten setzen sich Wissenschaftler*innen der Universität Paderborn mit innovativen Konzepten für sichere, bewegte und umweltfreundliche Schulwege ein. Das Projekt „Walking Bus“ der Arbeitsgruppe „Kindheits- und Jugendforschung im Sport“ wird mittlerweile an zahlreichen Schulen in ganz Deutschland angeboten. Die Idee: Grundschüler*innen gehen in Begleitung von Erwachsenen gemeinsam zu Fuß zur Schule. Dabei geht es nicht nur um Bewegung an der frischen Luft – das Projekt will auch soziale Kompetenzen stärken, mehr Selbstständigkeit fördern und den Straßenverkehr entlasten. Seit diesem Jahr sind die Schüler*innen auch auf Fahrrädern mit dem sogenannten „Biking Bus“ unterwegs. Zum Start des neuen Schuljahres erklärt Dr. Nicole Satzinger vom Department Sport und Gesundheit der Universität Paderborn, was einen aktiven Schulweg ausmacht und wohin die Reise noch geht.
Frau Satzinger, vor 20 Jahren wurde der „Walking Bus“ in Paderborn ins Leben gerufen. Inwiefern profitieren Schulkinder Ihrer Erfahrung nach am meisten von einem aktiven Schulweg?
Dr. Satzinger: „Besonders bedeutsam ist, dass Kinder Freude an der Bewegung haben und gemeinsam als Gruppe sicher zur Schule gelangen. Darüber hinaus zeigt sich, dass sie in den ersten Unterrichtsstunden aufmerksamer sind. Der ‚Walking Bus‘ erhöht die tägliche Bewegungszeit, stärkt die Selbstständigkeit der Kinder und fördert die soziale Interaktion. Ein weiterer wichtiger Vorteil ist die Entlastung des Straßenverkehrs vor den Schulen. Weniger Elterntaxis bedeuten mehr Sicherheit im Straßenraum und zugleich eine wertvolle Lernerfahrung im Hinblick auf richtiges Verhalten im Straßenverkehr. Gerade in den ersten Schuljahren bietet der ‚Walking Bus‘ die Möglichkeit, neue Kontakte in der Nachbarschaft, bei den Kindern und Eltern zu knüpfen. Viele Kinder berichten, dass sie auf dem Weg zur Schule neue Freundschaften schließen. Die Eltern schätzen das Konzept ebenfalls, da sie sich nicht mehr jeden Morgen um den Schulweg kümmern müssen, sondern nur an einem Tag in der Woche. Zudem wissen sie, dass ihr Kind aktiv und sicher zur Schule gelangt.“
Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse konnten Sie und Ihre Kolleg*innen an der Universität Paderborn durch das Projekt gewinnen?
Dr. Satzinger: „Die wissenschaftlichen Arbeiten von Prof. Dr. Wolf-Dietrich Brettschneider und Prof. Dr. Miriam Kehne zum ‚Walking Bus‘ basieren auf umfangreicher empirischer Begleitforschung und Evaluation. Die Ergebnisse zeigen, dass das Konzept einen nachhaltigen Beitrag zur Bewegungsförderung von Grundschulkindern leistet. Ein zentraler Befund betrifft die Steigerung der Alltagsbewegung: Kinder, die regelmäßig am ‚Walking Bus‘ teilnehmen, erhöhen ihre tägliche Bewegungszeit deutlich. Darüber hinaus weisen die Untersuchungen auf positive Effekte im Hinblick auf die Konzentrationsfähigkeit hin. Die gemeinschaftliche Bewegung am Morgen wirkt sich somit förderlich auf die Lernvoraussetzungen aus. Angesichts veränderter Lebenswelten von Kindern in den letzten Jahren ist die Bedeutung eines aktiven Schulwegs deshalb wichtiger denn je.“
Mit dem „Biking Bus“ gibt es nun ein weiteres spannendes Projekt für mehr Bewegung im Schulalltag. Was ist die Idee hinter dem „Fahrrad-Bus“, wie funktioniert das Konzept?
Dr. Satzinger: „Beim ‚Biking Bus‘ wird die Idee des ‚Walking Bus‘ auf das Fahrrad übertragen. Kinder fahren gemeinsam in einer Gruppe mit dem Fahrrad zur Schule. Begleitet werden sie von sogenannten ‚Biking Scouts‘, die für diese Aufgabe speziell ausgebildet werden. Wie bei einem Bus gibt es festgelegte Routen und Haltestellen, an denen die Kinder zusteigen können. Das Konzept verbindet Sicherheit mit Gemeinschaft: Die Kinder bewegen sich aktiv, lernen das richtige Verhalten im Straßenverkehr und kommen motiviert in der Schule an. Das Projekt wurde an der Friedrich-Spee-Gesamtschule in Paderborn entwickelt und gemeinsam mit dem Bewegungs-, Spiel- und Sportlabor ‚besslab‘ der Universität Paderborn, der Stadt Paderborn und Lehrkräften weiterführender Schulen ausgestaltet. Die Initiative wurde von der Polizei Paderborn und den Stadtwerken unterstützt, sodass der ‚Biking Bus‘ heute ein innovatives Mobilitätsmodell für mehr Bewegung, Verkehrssicherheit und Gemeinschaft in der Stadt Paderborn darstellt.“
Sehen Sie noch weiteres Potenzial für neue Ansätze rund um den aktiven Schulweg?
Dr. Satzinger: „Das Potenzial ist nach wie vor groß. Mobilitätsbildung sollte systematischer als bisher in das Schulsystem integriert werden und sich nicht nur auf den Grundschulbereich beschränken. Der schulische Ganztag bietet hierbei eine besondere Chance, Bewegungs- und Mobilitätskompetenzen über den Unterricht hinaus zu fördern. Das Ziel sollte darin bestehen, Mobilitätsbildung in allen Klassenstufen zu verankern – sowohl im Sportunterricht als auch in außerunterrichtlichen Angeboten – und sie durch fächerübergreifende Projekte, Projekttage oder praxisorientierte Exkursionen zu ergänzen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Lehramtsausbildung so auszurichten, dass zukünftige Lehrkräfte diese Inhalte kompetent in den Unterricht und die Ganztagsangebote integrieren können. Städte und Kommunen können den aktiven Schulweg auf vielfältige Weise fördern, etwa durch den Ausbau sicherer Fuß- und Radwege sowie die Unterstützung von Projekten wie dem ‚Walking Bus‘ und dem ‚Biking Bus‘. Aktions- und Mobilitätstage und Scout-Projekte stärken zusätzlich die Kompetenzen der Kinder. Besonders wichtig ist die Einbeziehung von Kindern, Eltern und beteiligten Akteuren in die Planung und Umsetzung solcher Konzepte. Darüber hinaus sollten Netzwerke aufgebaut werden, die Aktionen und Projekte langfristig begleiten und unterstützen, um Bewegung, Selbstständigkeit und nachhaltige Mobilität bei Kindern dauerhaft zu fördern.“