Historisches Lernen mit Zeitzeug:innen

Überblick

Die Rolle von Zeitzeug:innen ist in der geschichtsdidaktischen Forschung ambivalent bewertet worden: Einerseits wird ihr persönlicher Zugang zur Vergangenheit als motivierend und authentisch wahrgenommen, KMK-Empfehlungen und Curricula betonen das Potenzial von Zeitzeug:innengesprächen (vgl. Henke-Bockschatz 2014) und auch empirische Forschungsergebnisse wie z.B. von Bartelds et al. (2022) zeigen, dass der Einsatz von Zeitzeug:innen die Empathiefähigkeit von Schüler:innen besonders fördern kann. Andererseits weisen geschichtsdidaktische Studien wie jene von Christiane Bertram (2017) darauf hin, dass diese persönliche Interaktion mit Zeitzeug:innen im unterrichtlichen Kontext zwar als motivierend von Schüler:innen wahrgenommen und eingeschätzt wird, sich aber hinsichtlich des Lernfortschritts und besonders der epistemologischen Konzepte wie die Perspektivgebundenheit einer Zeitzeug:innenerzählung klare Defizite im Vergleich zu Mitschüler:innen zeigen, die andere Aneignungsformen wie Textarbeit oder Videoauswertung angewandt haben. Dabei weisen praktisch alle Studien eine konzeptionelle Begrenzung auf, da sie auf nur eine Zeitzeugenperson fokussieren, wodurch nicht selten eine Überwältigung der Schüler:innen festzustellen ist. Die Monoperspektivität ist durch die normative Aufladung der Themen, zu denen die Zeitzeug:innen befragt werden – insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus, zur Shoa und zur SED-Herrschaft –, bedingt: Täterpersonen könnten dabei nur als solche befragt werden und erlangen nicht den gleichen moralischen, im Sinne des Beutelsbacher Konsenses auch demokratiebildenden, Status wie Angehörige von Opfergruppen einer Diktatur. Diese Monoperspektivität steht gleichzeitig im Widerspruch zum didaktischen Prinzip der Multiperspektivität, das ein zentrales Ziel historischen Lernens darstellt (vgl. Lücke 2012, Meyer-Hamme 2012).

Genau hier setzt das Dissertationsvorhaben an: Es soll untersucht werden, wie sich das historische Lernen durch die Interaktion mit zwei kontrastierenden Zeitzeug:innen verändert und ob es dadurch bei Schüler:innen zu einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit Narrationen und Geschichtskonzepten kommt. Dafür wird ein Zeitzeug:innenprojekt entwickelt, das auf ein bislang wenig untersuchtes regionalhistorisches Thema, das deutsch-niederländische Zusammenleben in ostwestfälischen Garnisonsstädten während der NATO-Stationierungen von etwa 1965 bis 1995, zurückgreift. Die Auswahl dieses Themas verspricht zum einen eine geringere normative Aufladung als etwa NS- oder DDR-Geschichte, zum anderen eine hohe Relevanz hinsichtlich sozialhistorischer und gegenwartsbezogener Lernpotenziale, z.B. in der Wahrnehmung von Migration in historischer Perspektive. Der schulpraktische Teil des Projekts soll an einem Gymnasium einer ehemaligen Garnisonsstadt verortet sein. Die Schüler:innen eines Geschichtskurses der Sekundarstufe II begegnen dabei zwei Zeitzeug:innen mit unterschiedlichen Perspektiven – zum Beispiel einem ehemaligen niederländischen Soldaten und einer deutschen Zeitzeugin, die das Zusammenleben in der Stadt miterlebt haben. Der Projektverlauf strukturiert sich folgendermaßen: Nach einer thematischen Einführung im Rahmen des Geschichtsunterrichts entwickeln die Schüler:innen Interviewfragen, führen nacheinander die Zeitzeug:innengespräche und reflektieren diese. Die Datenerhebung findet hierbei zunächst über schriftliche Lernprodukte statt: In einem ersten Essay formulieren sie vor dem Zeitzeug:innengespräch ein Sachurteil, ob das deutsch-niederländische Zusammenleben funktioniert hat. Nach den Interviews erhalten sie ihren Essay mit dem Arbeitsauftrag zurück, diesen unter Rückgriff auf das neu erworbene Wissen zu überarbeiten und zu begründen, warum sich welche Veränderungen ergeben haben. Anschließend sollen sie in einer schriftlichen Argumentation den pädagogischen Wert von Zeitzeug:innenprojekten in schulischen Kontexten beurteilen, etwa anhand einer Dilemma-Situation. Einzelne Schüler:innen, deren Sachurteile bzw. Argumentationen sich in markanter Weise verändert haben, werden im Anschluss daran interviewt, um die individuellen Lernprozesse im Zusammenhang mit der Zeitzeug:inneninteraktion rekonstruieren zu können.

Um Entwicklungspfade historischen Denkens, epistemologische Konzepte sowie narrative Muster identifizieren zu können, soll bei der Auswertung vor allem das historische Argumentieren untersucht werden. Dabei stehen nicht nur inhaltliche Aussagen, sondern in besonderer Weise die Struktur und sprachliche Logik der historischen Argumentation im Fokus. In diesem Zusammenhang soll untersucht werden, inwiefern das von Andreas Petrik für die Politikdidaktik weiterentwickelte Modell der Argumentationsanalyse geschichtsdidaktisch übertragen werden kann. Zurückgegriffen wird dabei u.a. auf unterschiedliche Anwendungen des historical reasoning bei der Auswertung von Schüler:innentexten (u.a. Mierwald 2020, Schrader 2021). Die Dissertation verbindet somit eine empirisch fundierte Untersuchung historischen Lernens mit einem innovativen Projektansatz zur Arbeit mit kontrastiven Zeitzeug:innen. Sie ermöglicht neue Erkenntnisse zur Bedeutung von Perspektivenvielfalt und zum Bewusstsein der Narrativität von Geschichte und leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Arbeit mit Zeitzeug:innen im Geschichtsunterricht.

 

Auswahlliteratur

Bertram, Christiane (2017): Zeitzeugen im Geschichtsunterricht. Chance oder Risiko für historisches Lernen? Eine randomisierte Interventionsstudie (Zugl.: Tübingen, Univ., Diss.) [Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 6], Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.

Henke-Bockschatz-Gerhard (2014): Oral History im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag.

Lücke, Martin (2012): Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität. In: Barricelli, Michele / Ders. (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts (Band 2), Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, S. 281-288.

Meyer-Hamme, Johannes (2009): Historische Identitäten und Geschichtsunterricht.

Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung [Schriften zur Geschichtsdidaktik, Bd. 26]. Idstein: Kirchner-Verlag.

Meyer-Hamme, Johannes (2012): Subjektorientierte historische Bildung. Geschichtslernen in der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Deutungsangeboten zur DDR- Geschichte. In: Deutschland Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung. URL: www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/139259/subjektorientierte- historische-bildung/. Zuletzt abgerufen am: 04.12.2024.

Mierwald, Marcel (2020): Historisches Argumentieren und epistemologische Überzeugungen.

Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor (Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2019). Wiesbaden: Springer-VS.

Petrik, Andreas (2013): Von den Schwierigkeiten ein politischer Mensch zu werden. Konzept zur Praxis einer genetischen Politikdidaktik [Studien zu Bildungsgangforschung, Bd. 12], 2. erw. und akt. Auflage. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Petrik, Andreas (2021): Fachdidaktische Argumentationsanalyse: Die Prämissenreflexion als Kern politischer Konfliktlösung und Urteilsbildung. In: Ders. / Jahr, David / Hempel, Christopher (Hrsg.): Methoden der qualitativen Politikunterrichtsforschung. Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag, S. 189-221.

Schrader, Viola (2021): Historisches Denken und sprachliches Handeln. Eine qualitativ- empirische Untersuchung (Zugl.: Münster (Westf.), Univ., Diss., 2020) [Geschichte und historisches Lernen, Bd. 20]. Berlin: Lit.-Verlag.

Sonntag, Philipp (2023): Erinnerungskultur. Die gesellschaftliche Rolle von Zeitzeugen. Berlin: Frank & Timme Verlag.

Key Facts

Art des Projektes:
Forschung
Laufzeit:
08/2024 - 07/2028

Detailinformationen

Projektleitung

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Patrick Kamps

Theorie und Didaktik der Geschichte

Zur Person
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Prof. Dr. Johannes Meyer-Hamme

Theorie und Didaktik der Geschichte

Zur Person