„Allen helfen, die nicht atmen können“

Denise Parkinson über die Proteste, den Rassismus und das Justizsystem in den USA

Der Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd am 25. Mai brachte das Fass endgültig zum Überlaufen: Seit drei Wochen demonstrieren Menschen in den gesamten USA und weltweit gegen Polizeigewalt und Rassismus. Viele fordern grundlegende Veränderungen. Denise Parkinson wuchs in Montgomery im US-Bundesstaat Alabama auf, zog 1999 nach Deutschland und arbeitet seit 2004 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Paderborn. Wir sprachen mit der US-Amerikanerin, die Familie und Freunde in den USA hat, über die Proteste, den Rassismus und das Justizsystem in ihrer Heimat und wollten wissen, welche Maßnahmen es jetzt braucht – in den USA und weltweit.

Frau Parkinson, viele schwarze US-Bürger*innen erfahren im Alltag noch immer Rassismus, regelmäßig kommen Afroamerikaner*innen durch Polizeigewalt zu Tode und die internationale Bewegung „Black Lives Matter“ mit dem bekannten Hashtag existiert seit 2013. Wie erklären Sie sich, dass es in den USA gerade jetzt nach dem Tod von George Floyd zu Protesten dieses landesweiten Ausmaßes kommt?

Denise Parkinson: Viele Afroamerikaner*innen sind frustriert. Seit Jahrzehnten fordern sie dieselben Rechte, die weiße US-Amerikaner*innen schon lange genießen. Die Forderungen von Afroamerikaner*innen wurden mit Gesetzen und Richtlinien beantwortet, die ihnen weiterhin Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesundheitsvorsorge und in den Bereichen Wohnen und Bildung verschaffen. Die Großeltern von Afroamerikaner*innen protestierten, ihre Eltern protestierten und sie selbst haben jahrelang für ökonomische und soziale Gleichheit und nach verschiedenen Vorfällen gegen Polizeigewalt protestiert. Trotz allem hat sich nur sehr wenig verändert. Das wurde besonders durch die Corona-Pandemie schmerzhaft sichtbar, da sie aufzeigt, dass Afroamerikaner*innen unverhältnismäßig darunter leiden müssen. Und es wurde sichtbar dadurch, dass US-Amerikaner*innen und die gesamte Welt die Polizeibrutalität, welche die USA quält, hautnah via Social Media miterlebten. In 8 Minuten und 46 Sekunden hörten viele Menschen die verzweifelten Rufe von George Floyd - um Gnade, nach seiner Mutter und dafür, atmen zu können.

Doch als die Vereinigten Staaten heilsame Worte des Mitgefühls und der Hoffnung von ihrem politischen Führer hören wollten, bekamen sie stattdessen einen Tweet, der androhte, das Militär einzusetzen, um die Proteste von sogenannten „inländischen Terroristen“ zu unterdrücken. Außerdem verbreitete der US-Präsident die Verschwörungstheorie, dass die US-amerikanische Antifa, ein frei organisiertes Netzwerk von Gruppen, die direkte Aktionen einsetzen, um rechte und faschistische Gruppen zu konfrontieren, hinter den Protesten stecke. Viele Menschen in den USA, egal ob weiß oder schwarz, haben genug. Sie wollen wirkliche Veränderung und sie wollen sie jetzt. Bewaffnet mit Mundschutz und Desinfektionsmitteln haben US-Amerikaner*innen die Straßen trotz der Pandemie erobert.

Die Black Lives Matter-Bewegung und Demonstranten fordern einmal mehr, gewalttätige Polizisten konsequent strafrechtlich zu verfolgen und den institutionellen Rassismus in den USA nachhaltig zu bekämpfen. Die prominenteste Forderung ist aktuell aber „Defund the Police“. Was steckt dahinter?

Parkinson: Es ist sehr wichtig zu beachten, dass „defund the police“ nicht bedeutet, die Polizei loszuwerden. Alle US-Amerikaner*innen würden zustimmen, dass die Polizei kommen soll, wenn man beispielsweise ein seltsames Geräusch um 3 Uhr morgens hört und einen Einbrecher im Haus hat. Die Forderung „defund the police“ soll Aufmerksamkeit für ein anderes Thema schaffen: Ein Teil der Mittel, die die Polizeibehörden erhalten, könnte umverteilt und zur Verbesserung der Situation von einkommensschwachen und Minderheitengemeinschaften genutzt werden – durch die finanzielle Aufstockung von Sozialdiensten, der psychischen Gesundheitsversorgung, der Jugendhilfe, von Programmen für Obdachlose und  gegen häuslichen Missbrauch sowie von Arbeitsplatz- und Drogensuchtprogrammen. Bei der Umverteilung von Finanzmitteln wäre dann auch mehr Geld für Nachmittags- und Sommerfreizeitprogramme für Kinder vorhanden. Zum Vergleich: Aktuell verfügt das New York City Police Department (NYPD) über einen Jahreshaushalt von 6 Milliarden US-Dollar – weit mehr als etwa das Jahresbudget der Weltgesundheitsorganisation.

Der „Violent Crime Control and Law Enforcement Act“ von 1994, der ursprünglich von Senator Joe Biden entworfen und von Präsident Bill Clinton in das Gesetz aufgenommen wurde, ist ein gutes Beispiel für die Finanzierung von Polizeiarbeit in den USA, die sich mehr auf die Kriminalitätsbekämpfung konzentriert statt auf Verbrechensprävention. Dieses Kriminalgesetz, das Teil von Clintons Wahlversprechen war, hart gegen Kriminalität vorzugehen, stellte 30 Milliarden Dollar für neue lokale und staatliche Polizeistellen und für mehr Polizisten auf den Straßen bereit, fügte 60 neue Straftaten hinzu, die mit der Todesstrafe geahndet werden können, und implementierte die „drei-Streiks-Politik“, die eine obligatorische lebenslange Haftstrafe für Wiederholungstäter fordert. Dieses Gesetz führte zur größten Zunahme von Haftstrafen in der US-amerikanischen Geschichte. Zusätzlich strich es die Finanzierung für Gefangene, die höhere Bildung erhalten wollten, was bedeutete, dass Gefangene ihre Bildung als Vorbereitung auf ihre Resozialisierung und Rückkehr in die Gesellschaft nicht verbessern konnten.

Fairerweise muss man sagen, dass dieses Gesetz nicht das erste war, das den Schwerpunkt auf die Bestrafung von Menschen legte. Sowohl Präsident Lyndon B. Johnsons „Safe Streets Act“ von 1968 als auch Präsident Ronald Reagans Anti-Drogen-Missbrauchsgesetze von 1986 trugen dazu bei, dass sich die Insassenzahlen der US-Gefängnisse erhöhten. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Gesetze auch durch rassistische Voreingenommenheit getrübt waren: Zum Beispiel sahen die Anti-Drogen-Missbrauchsgesetze für den Besitz von 5 Gramm Crack-Kokain, einer unter Afroamerikaner*innen verbreiteten Droge, eine Mindeststrafe von 5 Jahren Haft ohne Bewährung vor, während der Besitz von 500 Gramm Kokain-Pulver, einer unter weißen US-Amerikaner*innen verbreiteten Droge, ebenfalls mit 5 Jahren Haft bestraft wurde. Diese Ungleichheit war rassistisch motiviert.

Also: „Defund the police“ zielt darauf ab, finanzielle Ressourcen nicht zu verbrauchen und zusätzliche staatliche Gelder nicht für mehr Polizeiarbeit einzusetzen, sondern sie gezielt für Verbrechensprävention und für Dienstleistungen und Programme zur Unterstützung benachteiligter Gemeinschaften zu verwenden.

Bei Teilen der US-amerikanischen Polizei scheinen Rassismus und rassistisch motivierte Gewalt seit Jahrzehnten fest verankert. Was wird bisher getan, um Rassismus und Gewalt bei den Polizeikräften zu bekämpfen und welche neuen Maßnahmen sind geplant?

Parkinson: Bisher wurde nicht genug getan. Die städtischen Polizeiabteilungen mussten meist gezwungen werden, ihre Politik und ihre Ausbildung zu ändern – entweder, weil dies das Ergebnis eines Rechtsstreits war oder weil das US-Justizministerium Untersuchungen einleitete und konkrete Schritte forderte. Ein Paradebeispiel ist die Polizeiabteilung von Newark im Bundesstaat New Jersey: Im Jahr 2014 erarbeiteten die Stadt und die Regierung des Bundesstaats ein „consent decree“, eine „Zustimmungsverfügung“. Hier handelt es sich um ein rechtsverbindliches Dokument, das besagt, dass die Stadt künftig den Anweisungen des Justizministeriums folgen wird. Vorausgegangen war eine Untersuchung von exzessiver Polizeigewalt, falschen Verhaftungen, illegalen Durchsuchungen und rassistisch voreingenommener Behandlung in der Stadt. Erst auf Anweisung änderte die Polizeiabteilung von Newark ihre Ausbildung und schloss darin sogenannte Sensibilitätsschulungen ein. Letzte Woche kündigte der Bürgermeister von Newark an, dass die Stadt die Polizei künftig umfinanzieren und einen Teil ihres Budgets auf neue Anti-Gewalt-Gemeinschaftsinitiativen umverteilen werde.

Eine weitere entscheidende Änderung fand letzte Woche mit der Aufhebung des Bürgerrechtsgesetzes, Abschnitt 50-a, in New York statt. Dieses Gesetz verhinderte die Freigabe aller Personalunterlagen von Polizeibeamten, Feuerwehrleuten und Justizvollzugsbeamten. Es besteht die Hoffnung, dass die Öffentlichkeit durch den Zugang zu diesen Aufzeichnungen nun besser über das Fehlverhalten von Polizisten informiert wird und dass Polizeidienststellen mehr Beweise haben werden, die sie zur Disziplinierung und Freistellung von Polizeibeamten nutzen können. Mit Maßnahmen wie den beschriebenen gibt es eine gute Chance, dass eine Reform der US-Polizei gelingen wird.

Die Polizei ist Teil des Justizsystems, das in den USA außerdem aus Richtern, Bundes- und Bezirksstaatsanwälten, Strafverteidigern und den bekannten Geschworenen besteht. „Es gibt eine lange Geschichte der Ungleichheit im US-Justizsystem“ fasste 2015 der damalige US-Präsident Barack Obama zusammen und stieß eine weitreichende Justizreform an. Diese wurde Ende 2018 im US-Senat verabschiedet – unter Präsident Donald Trump. Welche Veränderungen hat diese Reform bisher gebracht?

Parkinson: Wie erwähnt zielten die US-Gesetze in der Vergangenheit eher auf die Bestrafung von Menschen als auf die Prävention von Verbrechen ab und die Kriminalisierung von Armut und Sucht führte nur dazu, dass mehr Gefängnisse gebaut wurden. Der „First Step Act“ von 2018, unterzeichnet von Präsident Donald Trump, ist der erste große Schritt in die richtige Richtung. Im Zentrum dieses Gesetzes steht die Eindämmung von Gefängnisstrafen, insbesondere der langen obligatorische Mindeststrafen, die als rassistisch voreingenommen betrachtet wurden – vor allem im Falle von Drogenbesitz. Ebenso wichtig ist die „Zeitkreditpolitik“, die Gefangenen die Teilnahme an Rehabilitations- und Berufsausbildungsprogrammen erlaubt. So können sie einen „Zeitkredit“ erhalten, der ihre Strafen verkürzt.

Im Gegensatz zur Crime Bill von 1994 könnte der „First Step Act“ Gefangenen also dabei helfen, in die Gesellschaft zurückzukehren und möglicherweise einen erneuten Gefängnisaufenthalt verhindern. Man könnte fast sagen, dass dieses neue Gesetz eine Möglichkeit „to defund the prisons“ bietet, also Gefängnisse zu definanzieren. Wenn es weniger notwendig wird, so viele Amerikaner*innen hinter Gitter zu bringen, könnten mit dem freiwerdenden Geld Berufsausbildungen, Sozialwohnungen sowie Gesundheits- und Sozialdienstleistungen für Minderheiten unterstützt werden. Ich denke, viele US-Amerikaner*innen würden ihre Steuergelder lieber in benachteiligte Gemeinden als in Gefängnisse investieren.

In den letzten Tagen gingen auch Bilder von US-Polizisten um die Welt, die sich öffentlich mit friedlichen Protesten solidarisierten, zahlreiche schwarze US-Amerikaner sind selbst Polizisten und in den waffenstarrenden USA riskieren viele Polizisten täglich ihr Leben für die öffentliche Sicherheit. Welche Stimmungslagen herrschen bei den Polizisten derzeit vor?

Parkinson: Ich habe Kindheitsfreunde, die heute Polizeibeamte sind, und ich denke, dass sie über die polizeifeindliche Stimmung, die derzeit existiert, schockiert sind. Sie fühlen sich auch verletzt, weil die meisten US-Polizist*innen wirklich versuchen, zu beschützen und zu dienen – und trotzdem werden sie nun oft alle in einen Topf geworfen. Ich kann ihre Sorgen und ihre Frustration nachvollziehen. Meine Freunde in verschiedenen Polizeidienststellen würden es auch begrüßen, wenn Gelder umverteilt würden und vermehrt an soziale Dienste, psychische Gesundheitsfürsorge und Programme für Obdachlose, Junge und Alte gingen. Schließlich würde das bedeuten, dass die Polizei damit aufhören könnte, diese soziale Lücke zu füllen und sich stattdessen mit den eigentlichen Aufgaben der Polizeiarbeit befassen kann. Meine Freunde würden es auch begrüßen, wenn Gesetze so geändert würden, dass es einfacher ist, korrupte Polizisten zu disziplinieren und freizustellen.

Die Bewegung „Black Lives Matter“ erhält gerade großen weltweiten Zuspruch. In den sozialen Medien gibt es u. a. einen „#BlackoutTuesday“ und in der Fußballbundesliga zeigten zuletzt mehrere Spieler mit Gesten und Botschaften ihre Solidarität. Wie kann diese weltweite Aufmerksamkeit genutzt werden, um Rassismus weiter nachhaltig an den Wurzeln zu bekämpfen – auch bei uns in Deutschland? Und was kann jede/r einzelne von uns hier tun?

Parkinson: Es ist ein großer Tribut an George Floyd, dass sein Tod eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, Menschen für den strukturellen und alltäglichen Rassismus nicht nur in Amerika, sondern in der ganzen Welt zu sensibilisieren. Mich berührten und inspirierten die Demonstranten auf den Straßen in ganz Amerika und weltweit. Aber was können wir noch tun? Ich denke, ein erster Schritt wäre es, sich des alltäglichen Rassismus bewusster zu werden. Ich persönlich habe Rassismus häufig erlebt und ich finde, dass struktureller Rassismus viel einfacher und weniger schmerzhaft zu behandeln ist als alltäglicher Rassismus. Gesetze können leicht geändert werden, aber es ist eine ziemlich schwierige Aufgabe, die Herzen von Menschen zu verändern.

Ich glaube auch, dass wir überall gegen politische und soziale Ungerechtigkeit kämpfen sollten. Ich sah einen Bericht über einen syrischen Künstler, der ein Bild von George Floyd auf die Wand eines ausgebombten Gebäudes in Idlib gemalt hat. Er ist nicht schwarz und das Knie an seinem Hals und den Hälsen seines Volkes ist nicht das eines Polizeibeamten, aber die Botschaft ist dieselbe: Auch er und seine Leute können nicht atmen. Ich glaube, dass George Floyd uns allen eine menschliche Aufgabe mitgegeben hat: Wir müssen allen helfen, die nicht atmen können.

Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation

Foto (Uni Paderborn): Die US-Amerikanerin Denise Parkinson ist seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik.
Foto (Lorie Shaull/Flickr/CC BY-SA 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0): 4. Juni, Minneapolis: Kinder legen Blumen vor einem Wandgemälde für George Floyd nieder.