Den eigenen Platz in der Welt verloren – Interview mit Prof. Dr. Roberth Kunath und Dr. Marieke Borren zur Aktualität von Hannah Arendts Philosophie der Migration

Im Dezember 2018 fand an der Universität Paderborn die internationale interdisziplinäre Konferenz „Hannah Arendt: Challenges of Plurality“ statt. Die Veranstaltung versammelte über 70 Arendt-Forscher und Forscherinnen sowie Personen, die an den Beiträgen zur aktuellen Relevanz der Philosophin Interesse hatten. Die Konferenz wurde durch ein Projektseminar von Dr. Maria Robaszkiewicz vom Fach Philosophie der Universität Paderborn begleitet. Am Rande der Konferenz sprachen Angelika Peplinski und Tim Teichert mit Prof. Dr. Robert Kunath vom Illinois College/USA und Dr. Marieke Borren von der niederländischen Utrecht University über Hannah Arendts Philosophie der Migration.

Frau Borren, Herr Kunath, in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ beschreibt Hannah Arendt die Erfahrung, ein Flüchtling zu sein. Was ist besonders bemerkenswert an Arendts Schilderungen?

Borren: Wenn ich über Arendts Abhandlung lehre, dann benutze ich immer ein bestimmtes Zitat: „Als Juden besitzen wir keinerlei rechtlichen Status in dieser Welt. Wenn wir damit anfangen würden, die Wahrheit zu sagen, dass wir nichts als Juden sind, dann würden wir uns dem Schicksal des bloßen Menschseins aussetzen.“ Dieses Zitat betrifft zwar Juden, aber es gilt ebenso für Flüchtlinge im Allgemeinen. Es dreht sich um den Gedanken, den eigenen Platz in der Welt verloren zu haben. Das ist für mich die zentrale Idee in Arendts Essay. Er ist eine phänomenale Analyse dessen, was genau dieser Verlust bedeutet. Flüchtlinge werden auf das Menschsein reduziert, was mehrere Sachen bedeutet. Vor allem erweist sich der Glaube, dass ein Mensch von Natur aus Würde hat, einfach dadurch, dass er als Mensch geboren wurde, als Fiktion. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde offensichtlich, dass der Gedanke einer angeborenen Menschenwürde eine Lüge ist, denn Menschlichkeit kann nur durch nationale Identität und Staatsangehörigkeit Wert verschafft werden.

Kunath: Als Historiker lese ich Arendts Essay hauptsächlich in Bezug auf sie und die Zeit, in der sie lebte. Arendts Text konzentriert sich auf ihre Diagnose eines bestimmten jüdischen Bewusstseins, die eigene Identität zurückgelassen zu haben. Arendt verfolgt das zurück bis zu der Zeit, in der Juden noch Mitglieder einer nationalen Gemeinde waren. Als sie Franzosen oder Deutsche waren, waren sie dennoch nie den anderen Franzosen oder Deutschen gegenüber gleichgestellt. Daher gehörten sie schon damals nicht dazu. Als sie Flüchtlinge wurden, kam es automatisch dazu, dass sie sich immer anpassten, wenn sie an einen neuen Ort kamen. Dadurch entstand auch eine philosophische Frage: Welches Recht hat ein Migrant auf seine eigene Identität? Arendt sagt den Juden ganz klar, dass sie sich selber als Juden anerkennen müssen.

Borren: Arendt meint also eine Art Identitätspolitik.

Kunath: Genau. Und als sie Karl Jaspers über das Leben in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb, sagte sie, eine der großartigen Sachen daran sei, dass man ein Bürger sein könne, ohne sich anzupassen. Sie wollte eine Identität zurückbekommen und ich glaube, dass der Verlust dieser Identität etwas ist, was gegen einen selbst arbeitet. Andererseits bedeutet Einwanderer in Amerika zu sein, dass es normalerweise einen Weg zur Anpassung über mehrere Generationen gibt – und darüber herrscht eine gewisse Spannung. Arendt schreibt auch über die Grausamkeit eines Staatssystems, das erlaubt, die Schwächsten zu missbrauchen. Das lässt ihren Essay außerordentlich aktuell erscheinen.

Arendt schrieb ihren Essay vor 75 Jahren. Worin genau bestehen die Verbindungen zwischen ihrem Ansatz und der aktuellen Lage, vor allem der sogenannten Flüchtlingskrise?

Borren: Das internationale System hat sich seither nicht wirklich verändert. Natürlich wurde die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben, aber wenn wir uns die Situation heute anschauen, dann gibt es tatsächlich viele Parallelen zu Arendts Zeit. Eine ist das Problem der Abschiebung. Darauf weist schon Arendt hin und das ist auch heutzutage eine der größten Schwierigkeiten. Darüber hinaus: In einer Welt, in der Menschenwürde so eng mit einer Staatsbürgerschaft verbunden ist, resultiert der Verlust einer solchen darin, dass Menschen auf ihr nacktes Dasein reduziert werden. Hannah Arendt zeigt bereits in ihrem Essay, dass ein staatenloser Flüchtling der Gefahr von Abschiebung und Arrest ausgesetzt ist. Es scheint so, dass es uns als internationaler Gemeinschaft und als menschliche Wesen immer noch an Kreativität mangelt, sodass wir auch heute auf Mittel wie Flüchtlingslager zurückgreifen.

Kunath: Es scheint mir so, dass die heutige Relevanz von Arendts Essay auf einer gewissen Rückkehr zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg beruht. Sie erinnern sich vielleicht an Fancis Fukuyamas Artikel „Das Ende der Geschichte“. Ich glaube nicht, dass wir am Ende der Geschichte angelangt sind, sondern, dass wir gerade in der Geschichte zurückgehen. Der Kalte Krieg bildet eine Ausnahme und wenn wir über die Dynamiken der 1930er Jahre nachdenken – mit dem Aufstieg der autoritären Herrschaft und den Ungleichheiten beim Vermögen – gibt es Parallelen zu unserer heutigen Situation. Das denke ich beispielsweise, wenn ich den US-Präsidenten Folter befürworten oder „America first” sagen höre. Die Relevanz von Arendts Essays besteht darin, dass gewisse politische Phänomene zurückgekehrt sind und es gibt keine konzentrierten Anstrengungen, diese Sachen angemessen anzusprechen. Jeder versucht es zu vermeiden, zu viel involviert zu sein und das Problem lösen zu müssen, weil das mit gewissen Lasten verbunden ist. Und in einer Zeit der wachsenden sozialen Ungleichheit ist der politische Brauch, schutzlose Leute zu verteufeln, sehr beängstigend.

Borren: Das ist es. Ich finde es interessant, dass wir eine Rückkehr zu alten Problemen sehen, aber es ist wichtig zu betonen, dass sie mit einer Veränderung, einer neuen Wendung kommen. Auch dies ist eine Idee Hannah Arendts: Wir sollten nicht einfach auf die Geschichte schauen, da Geschichte sich prinzipiell nie auf die gleiche Art wiederholt. Das Neue ist niemals bloß das Alte in Verkleidung.

Kommen wir noch einmal zum Thema Migration. Hannah Arendt schreibt explizit über Flüchtlinge. Gibt es Verbindungen zwischen Flüchtlingen und regulären Migrantinnen und Migranten? Arendt bezieht sich beispielsweise häufig auf Staatenlosigkeit. Kann diese auch auf reguläre Migranten zutreffen und falls ja, auf welche Art und Weise?

Borren: Ich sträube mich, verschiedene Arten von Migranten zu vergleichen und „Migrant“ als generellen Begriff zu benutzen. Ich glaube, dass dieses Gefühl, keinen Platz in der Welt zu haben, für bestimmte Gruppen von Migranten nicht gilt. Ich habe zum Beispiel die letzten zwei Jahre in Südafrika gelebt. Ich war eine Fremde, aber ich gehörte zur am meisten privilegierten Gruppe von Migranten. Meine Situation war daher nicht einmal annährend mit der einer staatenlosen Person, eines Flüchtlings oder einer illegalen Migrantin vergleichbar.

Frau Borren, in Ihrem Artikel schreiben Sie, dass Flüchtlinge zugleich „an einer schädlichen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit leiden“. Würden Sie sagen, dass dies auch auf ihre heutige Situation zutrifft?

Borren: Ich habe den Artikel vor der sogenannten Flüchtlingskrise geschrieben, aber ich glaube, für Flüchtlinge hat sich nicht sehr viel verändert. Allerdings sollten wir mehr darüber sprechen, welche Strategien es für Flüchtlinge gibt, um Sichtbarkeit wiederzuerlangen.

Wie können Flüchtlinge und illegale Migrantinnen und Migranten Sichtbarkeit wiedererlangen und damit ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen? Und wie können eventuell andere dazu beitragen?

Kunath: In ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ sagt Arendt, dass ein Angriff auf die Rechte einer Person ein Angriff auf die Rechte von uns allen ist und ich bin immer noch von diesem Gedanken überzeugt. Wir müssen verstehen, dass die Rechte, die Migration regulieren, nicht nur andere Menschen betreffen, sondern uns alle. Deshalb müssen wir Solidarität mit Migranten zeigen und diese Themen mitverfolgen, vor allem diejenigen von uns, die privilegiert genug sind, sich nicht um den eigenen Aufenthaltsstatus fürchten zu müssen. Migranten können protestieren und handeln, sie haben diese Fähigkeit nicht verloren, sind aber viel mehr gefährdet als viele von uns.

Borren: Ich stimme dem zu. Migranten gehören prinzipiell zu dem “Wir” der Menschheit. Sie können Rechte in Anspruch nehmen, weil sie auch Rechte haben. Bestimmte Gruppen von Flüchtlingen und Migranten ohne Aufenthaltsstatus haben allerdings keine Rechte. Sie befinden sich in einer paradoxen Situation, in der sie etwas behaupten müssen, das sie nicht haben. Dies entspricht Arendts Auffassung des Rechts, Rechte zu haben. Die eigenen Rechte in Anspruch zu nehmen bedeutet, diese bereits zu haben.

Oft wird Bezug auf eine Aussage von Jacques Rancière genommen: Flüchtlinge, die unsichtbar sind, sollten vortäuschen zu dem kollektiven “Wir” dazuzugehören. Sie sollten so tun, als wären sie etwas, was sie eigentlich nicht sind. In einer provokativen und einfallsreichen Weise sollten sie die Situation hervorsehen, in der sie landen möchten, eine Situation, in der sie Rechte einfordern können. Ob man dieser Idee nun zustimmt oder nicht: Rancières Aussage zeigt dennoch, dass Sichtbarkeit das Resultat kollektiver Bemühungen ist, was auch Arendts Auffassungen entspricht. Daher sollten Menschen zusammen handeln um eine solche Sichtbarkeit wiederzuerlangen. Der zweite Teil der Frage, inwiefern andere dazu beitragen können, ist schwierig zu beantworten. Es gibt beispielsweise den Vorschlag, sich von der eigenen Staatsbürgerschaft zu „disidentifizieren“, im Sinne von „Das passiert nicht unter unserem Namen”. Eine andere Möglichkeit wäre es, sich restlos mit denen zu identifizieren, die keine Rechte besitzen und zu sagen, dass wir alle Flüchtlinge sind. Zwar kann dies eine sehr starke Botschaft vermitteln, aber es scheint mir dennoch unaufrichtig, weil ich eben kein Flüchtling bin. Die Situation der Menschen ohne Rechte wird dabei heruntergespielt. Eine andere Herangehensweise wäre das Handeln im Namen der Flüchtlinge. Allerdings wie so oft, wenn man im Namen einer marginalisierten Gruppe handelt, geht das mit einer bestimmten Arroganz einher. Deshalb sollten wir hier besonders vorsichtig sein, vor allem mit Blick auf die Auswirkungen von Mitleid und Mitgefühl mit dem Leiden anderer. Dies beinhaltet oft eine Herabsetzung der Flüchtlinge auf leidende Körper, auf eine homogene Masse. Das sieht man häufig auch bei denjenigen, die die besten Absichten haben.

Prof. Dr. Robert Kunath ist William and Charlotte Gardner Professor der Geschichte am Illinois College/USA. Er forscht zur neueren deutschen Geschichte, insbesondere der Interaktion zwischen Kunst und Politik, und zur Geschichte des Holocaust.

Dr. Marieke Borren ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Utrecht University und der Open University in den Niederlanden. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen zu Hannah Arendt und Migration.

Foto (Universität Paderborn, Fach Philosophie): Prof. Dr. Robert Kunath lehrt und forscht am Illinois College in den USA.
Foto (Universität Paderborn, Fach Philosophie): Dr. Marieke Borren ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der niederländischen Utrecht University.