50 Jahre danach: Stu­dentische Protest­be­we­gun­gen im Jahr 1968

Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke, Student und politischer Aktivist, Opfer eines Attentats, das in Deutschland zum Höhepunkt der studentischen Proteste in den 1960er Jahren wurde. Die damaligen Protestbewegungen erstreckten sich auf mehrere Nationen und jähren sich nun zum fünfzigsten Mal. Aus diesem Anlass blickt Prof. Dr. Rainer Pöppinghege, außerplanmäßiger Professor für Neueste Geschichte an der Universität Paderborn, im Interview auf die Proteste zurück, beleuchtet die Rolle der Studierenden und nimmt zu aktuellen Entwicklungen Bezug.

 

Die 68er-Bewegung wird gerne als Mythos und Übertreibung gesellschaftspolitischer und kultureller Umbrüche deklariert, der besonders in den Jubiläumsjahren in den Medien aufgegriffen wird. Wie groß war letztlich die Revolte?

Pöppinghege: Es handelte sich um eine globale Bewegung, die in Deutschland auch von den Impulsen aus San Francisco oder Paris lebte. Dabei vermischten sich ganz unterschiedliche Protestziele, beispielsweise Kritik an konkreten Studienbedingungen mit den Anti-Vietnamkriegsprotesten. Träger der Proteste waren in starkem Maße Studierende, ältere Schüler und auch Lehrlinge. In der Bundesrepublik standen damit die großen Uni-Städte Berlin, Frankfurt und München im Fokus. Aber auch in Münster oder Bochum war die Unruhe zu bemerken.

Die Bezeichnung „68er“ wurde der Bewegung erst im Nachhinein verliehen und spielt auf das Jahr an, in dem die Proteste ihren Höhepunkt erreichten. Können Sie das einmal in den historischen Kontext einordnen?

Pöppinghege: Das Jahr 1968 kann man nicht isoliert betrachten, sondern als Höhepunkt einer langjährigen Reformdiskussion. In vielen Gesellschaftsbereichen hatte es seit Langem Unzufriedenheit gegeben. Allein die Diskussion um eine Anpassung der Studienbedingungen und neue Modelle der Hochschulbildung reichten in Deutschland bis in die fünfziger Jahre zurück. Auch auf dem Gebiet der Psychiatrie und des Strafvollzugs war die Reformdiskussion 1968 längst im Gange. Sicherlich wurde das alles ab Mitte der sechziger Jahre stärker auf die Straße getragen. Dazu gab es konkrete politische Anlässe, beispielsweise die im Frühjahr 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze. Bei vielen Studierenden zeigte der deutsche Staat damit sein angeblich wahres „faschistisches“ Gesicht. Für die damalige Große Koalition waren es gerade die Studentenunruhen, die die Dringlichkeit der Staatsschutzmaßnahmen begründeten.

Welche Rolle kam den Jugendlichen, speziell den Studierenden, während der Protestbewegungen bei?  Welche Themen kamen zur Sprache?

Pöppinghege: Die Studierenden drängten schon länger auf eine konkrete Verbesserung ihrer Studienbedingungen. Als die anfangs moderaten Proteste von der Politik ignoriert wurden, politisierte sich der Protest und erhielt durch den Vietnamkrieg, aber auch durch ein alternatives Lebensgefühl, Stichwort Hippiebewegung, neuen Schub.

„Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren“, diesen Slogan hielten 1967 zwei Studierende an der Universität Hamburg auf einem Transparent hoch. Worum ging es bei dieser Aktion?

Pöppinghege: Der Slogan spielt auf die lange Tradition deutscher Universitäten an, die aus Sicht der Studierenden dringend reformbedürftig waren. Der Talar galt als Symbol professoraler Macht im Rahmen des Lehrstuhlprinzips, die sich in den universitären Gremien uneingeschränkt durchsetzen konnte. Die hochschulpolitischen Reformvorstellungen zielten dagegen auf die Gleichberechtigung der anderen beteiligten Gruppen, also der Assistenten und der Studierenden.

In den 1960er und 1970er Jahren wurden in Deutschland zahlreiche Universitäten bzw. Hochschulen gegründet, u. a. auch in Paderborn. Hinzu kommt das Hochschulentwicklungsgesetz, das 1972 in NRW in Kraft trat. Kann man hier von direkten Reaktionen auf die Protestbewegungen sprechen?

Pöppinghege: Vielleicht hat das Jahr 1968 noch einmal eine neue Dynamik in die Debatte gebracht. Tatsächlich hatten sich zahlreiche Akteure wie der Wissenschaftsrat oder die Kultusministerkonferenz schon seit den fünfziger Jahren mit dem Thema Hochschulreform befasst. Damals gab das Stichwort von der Überfüllung der Hochschulen den Anlass, um neue Wege zu erproben, mit der wachsenden Zahl von Studierenden umzugehen. Das betraf dann nicht nur den Bau neuer Bildungseinrichtungen. Vielfach waren damit auch hochschuldidaktische Reformprojekte verbunden, wie beispielsweise das der damaligen Gesamthochschulen, zu denen ja auch die heutige Universität Paderborn gehörte. 

Was bleibt nach 50 Jahren heute noch übrig an politischem Interesse an den 68er-Bewegungen? Steuert sie mit dem diesjährigen Jubiläum auf ihren Abschluss zu und ist „die Revolutionslava ausgeglüht“, wie der Historiker Prof. Dr. Axel Schildt kürzlich zu diesem Thema in der FAZ schrieb?

Pöppinghege: Ihre Wirkung hat die Bewegung ja in vielen Bereichen erst seit den siebziger Jahren entfaltet. Wenn wir auf Gesetzesinitiativen zur Gleichstellung von Frauen oder Homosexuellen blicken, dann ja teilweise noch später. Zudem ist es natürlich ein biographisches Phänomen, wenn die damaligen Zeitzeugen zumindest aus ihren beruflichen Funktionen verschwinden. Daher dürfte der Blick auf „1968“ weiter historisiert werden, wie das eigentlich immer der Fall ist, wenn die Zeitzeugen abtreten.

In den USA protestieren Schüler und Studierende seit Anfang des Jahres gegen die aktuellen Waffengesetze. Auch mit Blick auf Protestbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten: Können junge Menschen heute mit solchen Aktionen einen realpolitischen Wandel beeinflussen bzw. herbeiführen oder bleibt es bei einer medialen Aufmerksamkeit?

Pöppinghege: Das Thema Waffengesetze polarisiert in den USA ganz besonders und eignet sich daher auch recht gut für die Protestaktionen. Das zeigt, dass das Mobilisierungspotenzial da ist, wie kürzlich auch die Proteste gegen TTIP in Deutschland. Das ist aber schwieriger, wenn der Verhandlungsgegenstand abstrakterer Natur ist. Heute ist es aus meiner Sicht in Deutschland auch weniger eine generationelle Frage, ob man auf die Straße geht. Das tun auch inzwischen Achtzigjährige – was wahrscheinlich ebenfalls das Erbe der 1968er ist.

 

Das Interview führte Kamil Glabica, Stabsstelle Presse und Kommunikation.

Foto (Sarah Jonek): Prof. Dr. Rainer Pöppinghege, außerplanmäßiger Professor für Neueste Geschichte an der Universität Paderborn.