Ringvorlesung

Wintersemester 2012/13: Standardisierung und Naturalisierung

Im Wintersemester 2012/13 widmet sich das Graduiertenkolleg Prozessen der Standardisierung und Naturalisierung und fragt nach ihrem Verhältnis zum Konzept der Automatismen. Das Graduiertenkolleg versteht Automatismen als Dynamiken der Strukturentstehung, die sich jenseits bewusster Planung vollziehen. Gleichzeitig wohnt Automatismen ein Moment der Komplexitätsreduktion inne: Wo es gelingt, Handlungssequenzen zu bündeln, sind die Ausführenden von ihrer Komplexität weitgehend befreit. Standardisierung und Naturalisierung erscheinen vor diesem Hintergrund als zwei unterschiedliche und doch komplementäre Prozesse, durch die kulturell bedingte Praxen, Wahrnehmungen und Technologien in einen Zustand der Selbstverständlichkeit übergehen.

Zwischen den beiden Begriffen finden sich vielfältige Parallelen und Überlappungen: Während es für die Naturalisierung als Konstruktion von Natürlichkeit charakteristisch scheint, dass sie sich auf einer unbewussten Ebene vollzieht, gibt es gleichzeitig Standardisierungsprozesse, in denen das Ideal des ‚Natürlichen‘ bewusst angestrebt wird. Beide Prozesse scheinen in gegenwärtigen Gesellschaften an Relevanz zu gewinnen, sei es im Bereich der (Informations-)Technologien, der Ökonomie, des Selbstmanagements oder der (Lebens-)Wissenschaften. Die Ringvorlesung sucht hier sowohl die Auseinandersetzung mit konkreten Phänomenfeldern als auch mit übergreifenden theoretischen Konzeptualisierungen.

 

Raum: E5.333 & W4.208

Zeit immer: 18.15h

Plakat | Flyer

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Dienstag 09.10. | Raum E5.333 | Roland Bless (Karlsruhe)

Standardisierung im Internet - wer gestaltet das Internet der Zukunft?

Standardisierung ist eine Grundvoraussetzung, um technische Kommunikation, wie sie im globalen Internet genutzt wird, zu realisieren. Ohne Standardisierung hätte es das omnipräsente Internet in dieser Form nicht gegeben. Es gibt verschiedene Standardisierungsgremien, die Teile der Internet-Technologie gestalten und doch sehr unterschiedlich organisiert sind. Im Vortrag wird an einigen Beispielen beschrieben, wie diese Gremien organisiert sind. Speziell werden Einblicke in die Arbeitsweise der Internet Engineering Task Force (IETF) gegeben, die gemäß ihrem Credo „We reject: kings, presidents and voting. We believe in: rough consensus and running code“ für einen sehr offenen Standardisierungsprozess im Internet steht.

 

Mittwoch 07.11. | E5.333 | Gabriele Schabacher (Siegen)

Infrastrukturen, blackboxing und Standardisierung − zur Mediengeschichte der Rohrposten

Infrastrukturen werden nur im Moment ihrer Störung sichtbar, im Normalbetrieb funktionieren sie als black boxes. Die Infrastrukturen zugeschriebene Statik beruht dabei auf Standardisierungsleistungen, die sich komplexen Aushandlungsprozessen verdanken. Am Beispiel der historischen Entwicklung der Rohrposten soll gezeigt werden, inwiefern Infrastrukturen in ihrer Entstehung medial wandelbar sind, stets lokal wie global operieren und nur dank permanent investierter Arbeit aufrechterhalten werden können.

 

Dienstag 20.11. | W4.208 | Stefan Rieger (Bochum)

Stille Post. Automatismen der Formerzeugung

Der Beitrag setzt an einem Schwerpunkt des Graduiertenkollegs an und setzt diesen in Szene: dort nämlich, wo Automatismen als Dynamiken einer Strukturentstehung gefasst werden, „die sich jenseits bewusster Planung vollziehen“. Solche Prozesse sollen stellvertretend am Fall von Bildern und ihrer zunehmenden Automatisierung in den Blick genommen werden. Dabei bietet das Kinderspiel von der Stillen Post ein Modell für Prozesse der Transformation, das Momente von Intentionalität und Gesteuertheit, kurz, die bewusste Planung und Kontrolle, gezielt außer Kraft setzt. An Beispielen aus sprachlicher, gezeichneter, photographierter und nicht zuletzt filmischer Darstellung soll im Prozess der allmählichen Verfertigung von Bildern mit deren Konstruiertheit zugleich das Unterlaufen stabiler Zuordnungen zu Natur und Kultur sichtbar werden.

 

Dienstag 11.12. | W4.208 | Christine Hanke (Potsdam)

Die Gaußkurve - eine Erfindung der Natur? Überlegungen zur Naturalisierung statistischen Wissens

Mit Durchsetzung der metrisch-statistischen Objektivität seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird Wissen vorrangig zu statistischem Wissen. In einer radikalen Transformation der Naturwissenschaften verschiebt sich dabei der Blick von Naturgesetzlichkeiten hin zu Normalverteilungen und Standardabweichungen. Ausgehend von der Gaußkurve – der paradigmatischen Datenvisualisierung statistischer Normalverteilung – diskutiere ich, wie in dieser neuen Wissensform Standardisierung und Naturalisierung eng miteinander verschmelzen.

 

Dienstag 08.01. | Raum E5.333 | Bernhard Rieder (Amsterdam)

Datenbanksysteme als Kulturtechnik: Das relationale Datenbankmodell zwischen Beschreibung und Performativität

Seit seiner Formulierung Anfang der 1970er Jahre ist das relationale Datenbankmodell zu einer dominanten Technik zur Informationserfassung, -verwaltung, -abfrage und -verwertung geworden. Dieser Vortrag untersucht eine Reihe technisch-konzeptueller Eckpfeiler dieses Modells in Hinsicht auf Aspekte der Standardisierung und Automatisierung kognitiver, sozialer und wirtschaftlicher Prozesse.

 

Mittwoch 09.01. | E5.333 | Philipp Sarasin (Zürich)

Michel Foucault und das „Programm“. Technische und naturwissenschaftliche Heuristiken in Foucaults Diskursanalyse

Michel Foucaults Diskursanalyse war der bewusst unternommene Versuch, eine neue Methode für die Geisteswissenschaften zu entwickeln – eine Methode, die nicht vom „Geist“ und dem „Verstehen“ ausgeht oder darauf beruht. Der Vortrag will zeigen, wie sehr Foucault dabei technische und naturwissenschaftliche Denkmodelle als Heuristiken nutzte, um seine Diskursanalyse kompatibel zu machen mit dem, was er 1966 als „die wissenschaftliche und technische Welt“ bezeichnete.

 

Dienstag 22.01. | Raum E5.333| Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld)Das böse Gedächtnis der Kultur. Automatismen und Resistenz

Am Beispiel der „Erfindung der Zigeuner“ in Europa soll der Frage nachgegangen werden, ob eine Tiefendimension gesellschaftlicher Ausgrenzung existiert, die man als „Naturalisierung“ beschreiben kann. Lassen sich die Mechanismen beschreiben, die bewirken, dass die soziale Exklusion zu einer Aufnahme in das kulturelle Feld führt? Welchen Regeln gehorcht die Spaltung der Exkludierten in einen ästhetisch repräsentierten und einen nicht repräsentierbaren Teil? In welchem Verhältnis steht die Eingrenzung des Realen zur Entgrenzung des Imaginären? Spielen „Standardisierungen“ und „Automatismen“ dabei eine Rolle?

 

Mittwoch 23.01.  | E5.333 | Astrid Deuber-Mankowsky (Bochum)

The Hunger Games – Spiel und Kontrollgesellschaft. Deterritorialisierung und Reterritorialisierung von Geschlecht

Das Spiel basiert gleichermaßen auf Automatismen, wie es diese hervorbringt und zu unterlaufen sucht. Ausgehend von Deleuzes und Guattaris Unterscheidung von Kriegsmaschine und Staatsapparat im Rahmen einer Spieltheorie soll am Beispiel der populären Jugendromantrilogie und deren Verfilmung The Hunger Games untersucht werden, inwieweit das Spiel als Konzept es erlaubt, Naturalisierungsprozesse umzuleiten, neu und anders zu fassen. Was wäre, wenn Katniss Everdeen nicht als Heldin gelesen wird, keine Repräsentations- und Identifikationsfigur darstellt, sondern als eine Spielerin in einem offenen, vielleicht sogar „glatten“ Raum gedacht wird?

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Graduiertenkolleg „Automatismen. Kulturtechniken zur Reduzierung von Komplexität“

Sprecher:  Hannelore Bublitz, Norbert Otto Eke
Verantwortlich für die Ringvorlesung: Christoph Ribbat, Christoph Sorge
Konzeption der Ringvorlesung: Dominik Leibenger, Martin Müller, Marion Näser-Lather, Theo Röhle

Warburger Str. 100
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Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Universität Paderborn