Heterogene Widerstandskulturen: Sprachliche Praktiken des Sich-Widersetzens von 1933 bis 1945

Hunderttausende junger Menschen werden hingeschlachtet!!! WOFÜR?! WOFÜR?! WOFÜR?! WOFÜR?! WOFÜR !!! Für das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Für den Neuaufbau Europas? Für die Freiheit des deutschen Volkes????? NEIN!! Sondern einzig und allein für die grössenwahnsinnigen Weltbeherrschungspläne unserer plutokratischen Führerklicke – Hanno Günther (1940): Das freie Wort 3.

Projektbeschreibung/-ziele (dt.):

In dem von der DFG geförderten Projekt wurde auf der Basis eines repräsentativen volltextdigitalisierten Korpus umfassend ermittelt, wie Sprache eingesetzt wird, um Widerstand auszuüben, welche Sprachge­brauchsmuster nachweisbar sind und welche Leistungen diese erbringen. Zentrale Doku­mente des deut­schen Wi­der­stands zwischen 1933 und 1945 wurden, seien es öffentliche Dokumente wie Flugblätter oder Denkschriften, seien es private Dokumente wie Tagebuch- oder Haftaufzeichnungen, in sprachwissenschaft­lichen Forschungen zum Na­tionalsozialismus trotz wieder­holter Verweise auf ein entspre­chendes Forschungsdeside­rat bisher allenfalls punktuell unter­sucht. In das Projekt wurden dabei nicht nur bekannte Dokumente wie etwa die Flugblätter der Weißen Rose oder die Schriften des Kreisauer Kreises, sondern auch eher unbekannte Schriften und Verlautbarungen berücksichtigt und analysiert.

Bei dem Vorhaben wurde insbesondere die Heteroge­nität der Widerstandskommunikation systematisch berücksichtigt, die sich zum einen durch die Bindung an jeweils unterschiedliche soziale und/oder poli­tische Milieus, zum ande­ren durch die je unterschiedliche Akteursposition und zum dritten durch eine jeweils unter­schied­liche Auseinandersetzung mit dem NS-Machtapparat und der zunehmend inte­grierten Gesellschaft erklärt.

Die Untersuchung der Widerstandskommunikation trägt zwar somit den in der Zeitgeschichte ermittelten Ergebnissen Rechnung, zielt jedoch auf eine eigenständige sprachwissenschaftli­che Profilierung der Widerstandsthematik ab und eröffnet folgende Perspektiven: Sie erlaubt, Widerstand nicht nur im Sinne einer Widerstandsaktivität, etwa gemäß der gängigen Unter­teilung in einen aktiven und einen passiven Widerstand, zu verstehen, sondern ihn auch vom Sprachgebrauch her zu erschließen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Mustern der öffentlichen Kommunikation des NS-Apparates und zum Sprachgebrauch der integrierten Gesellschaft nachzuweisen. Die mit dem Projekt verbundenen Untersuchungen der Indienst­nahme vorgängiger Praktiken und dadurch vermittelter Diskurse zeigen einerseits die Traditi­onsbindung des widerständigen Sprachgebrauchs an, andererseits schärfen sie den Blick für eine Traditionsentbindung bzw. für die Veränderungen des Sprachgebrauchs unter den Be­dingungen des Totalitarismus.

Die Grundrechte des Individuums und der Gesellschaft wurden wiederentdeckt. Worte, die für uns heute vielleicht vage erscheinen, hatten damals sehr konkrete Bedeutung. Sie begleiten die ganze Geschichte des Widerstandes, vom Aufruf Julius Lebers Mitte Februar 1933 […] bis in die letzten Minuten des Regimes – Ger van Roon (1998): Widerstand im Dritten Reich, München, S. 217.

Projektbeschreibung/-ziele (engl.):

The project aimed to utilize a representative full-text digitalized corpus to investigate comprehensively how language is used to exercise resistance, which language use patterns can be established, and which functions these patterns perform. Despite several calls to correct the research desiderata in this area, key documents of the German resistance between 1933 and 1945 have previously been the subject of only selective linguistic studies on National Socialism, at best. This project takes a systematic account of the heterogeneity of resistance communication in particular, explained firstly by the links to differing social and/or political milieus, secondly by the actors’ differing positions, and thirdly by differing conflicts with and approaches to the National Socialist regime and the increasingly integrated society, the language of which is examined in Heidrun Kämper’s study (see KA1539). To analyse these resistance texts, existing approaches to action-oriented discourse analysis form the basis of a discrete multidimensional model, developed to incorporate the above prerequisites while extrapolating patterns of action (such as actions constituting reality, identity and relationships, and actions of contradiction, disproving and resistance) from the textual surface and ascertaining changes in these patterns. In methodological respects, the research project essentially works with linguistic hermeneutics. However, it also provides for a linking of quantitative and qualitative methods, applied on the basis of the analysis model.

The study of resistance communication will thus take account of the findings of contemporary historical research yet aimed, however, to achieve a discrete linguistic profile in the area of resistance to National Socialism. It enables an understanding of resistance not only in the sense of resistance activity, for instance in accordance with the usual classification of active and passive resistance, but also in terms of language use, establishing common and diverging factors to patterns of public communication as performed by the National Socialist regime and the language use of the integrated society under that regime. The project’s study of the utilization of prior practices and discourses imparted through this use aimed to both demonstrate the attachment to tradition in resistance language use and also call attention to breaks from tradition and changes in language use under the conditions of totalitarianism.

Projektmethoden und -ergebnisse:

Zur Analyse der Widerstandstexte wurde:

Ein Korpus von Widerstandstexten volltextdigitalisiert. Unter Berücksichtigung von Bildmaterial und der Materialität der Texte wurden diese qualitativ und quantitativ interpretiert sowie ausgewertet. In diese Interpretation gehen insbesondere die Traditionsbindung und die spezifische Auseinandersetzung mit Herrschaftsdiskursen und Praktiken ein.

Ausgehend von einem im Projekt entwickelten kommunikationsanalytischen Modell wurde das Korpus mittels CATMA (Unser theoretischer wie methodischer Zugang zu CATMAmanuell annotiert. Von der textuellen Oberfläche ausgehend wurden dabei Handlungsmuster (Handlungen der Wirklichkeits-, Identitäts- und Beziehungskonstitution sowie Handlungen des Widerspruchs, des Widerlegens und der Gegenwehr) und deren Veränderungen erschlossen. Dazu wurde ein Tagset entwickelt, das mit CATMA umgesetzt wurde, und wurden entsprechende Guidelines erarbeitet. Die daraus entstandenden Annotationsdateien können über Lindat/Clariah eingesehen und für weitere Forschungen verwendet werden.

Auf der Basis der qualitativen sowie quantitativen Analysen sind umfassende Projektpublikationen entstanden. Eine entsprechende Übersicht findet man hier.

 

Detailinformationen

Das Forschungsvorhaben hatte eine Laufzeit von 36 Monaten (01.04.2018-31.03.2021).

Die Projektleiterin war Prof. Dr. Britt-Marie Schuster.

Der Projektmitarbeiter*innen waren PD Dr. Nicole M. Wilk sowie  PD Dr. Friedrich Markewitz.

Unterstützt wurde das Projektteam durch die studentischen Hilfkräfte: Alina Bindrim, Alena Bock, Lena Griffiths, Philipp Josef Hüttenbrink, Sarah Schröder und Dennis Urmanski.

Es bestand eine Projektkooperation mit dem Leibniz Institut der Deutschen Sprache (Projektleiterin an diesem Standort: Heidrun D. Kämper).