Pa­ralym­pi­sche Ath­let*in­nen lei­den un­ter den Fol­gen der Co­ro­na-Pan­de­mie

 |  Forschung

Studie der Universität Paderborn offenbart langfristige Konsequenzen für den Leistungssport

Das weltweite Sportgeschehen befindet sich seit nunmehr über einem Jahr im Corona-Modus. Training und Wettkämpfe sind stark eingeschränkt oder gar nicht möglich. Davon betroffen ist auch der Hochleistungssport. Welche Auswirkungen die Pandemie auf paralympische Athlet*innen hat, steht im Mittelpunkt einer Untersuchung, die derzeit von Wissenschaftlerinnen an der Universität Paderborn durchgeführt wird. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziert das Forschungsprojekt.

Prof. Dr. Sabine Radtke, Leiterin der AG „Inklusion im Sport“ am Department Sport und Gesundheit der Universität Paderborn, und ihre Wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Marie Biermann haben 138 paralympische Athlet*innen aus ganz Deutschland zu Belastungen, Bewältigungsstrategien und Folgen der COVID-19-Pandemie seit dem vergangenen Jahr befragt. Die Online-Befragung, die mit einer Rücklaufquote von 35 Prozent endete, richtete sich an Para-Athlet*innen aus allen Sportarten, die Mitglied im Paralympicskader, Perspektivkader, Nachwuchskader, Teamsportkader und Ergänzungskader sind. Rund ein Drittel derjenigen, die an der Studie teilgenommen haben, gehört dem Paralympicskader an. Aus dieser Gruppe werden die zukünftigen Paralympics-Teilnehmenden rekrutiert.

Spürbare Folgen für Leistungsfähigkeit und Motivation

Für die Wissenschaftlerinnen sind zwei Ergebnisse besonders aussagekräftig: Als größte Belastungen während der coronabedingten Einschränkungen werden die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit bzw. der Wegfall der Wettkämpfe sowie die Aufrechterhaltung der sportbezogenen Motivation empfunden. Fakt ist, dass 43 Prozent der Befragten angaben, seit dem Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 an keinem Wettkampf mehr teilgenommen zu haben. „Während des ersten Lockdowns haben 35 Prozent der Befragten tatsächlich überhaupt nicht trainiert“, sagt Prof. Dr. Radtke. „Das hat Folgen für die Fitness und die Motivation gleichermaßen. Den paralympischen Athletinnen und Athleten fällt es schwer, sich ohne ein konkretes Wettkampf-Ziel oder Wettkampf-Höhepunkte zum Training zu motivieren.“ Auch das Training ohne Partner*in wird als Problem bewertet. Außerdem werde die eigene Leistungsfähigkeit heute wesentlich negativer eingeschätzt als vor der Pandemie: Im März 2021 sind im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit nur halb so viele Sportler*innen mit ihrer Leistungsfähigkeit voll zufrieden. Ähnliches ist in Bezug auf die mentale Leistungsfähigkeit zu beobachten. Dazu passt, dass sich fast ein Viertel der Athlet*innen seit Beginn der Pandemie vermehrt nicht-sportliche Freizeitbeschäftigungen gesucht und sich vom Hochleistungssport abgewandt hat. Zehn Prozent der Befragten geben sogar an, aufgrund der Pandemie ihre Karriere vorzeitig beenden zu wollen.

Unklarheit über Spiele in Tokio

Derzeit ist noch nicht final entschieden, ob in diesem Jahr die für 2020 geplanten Paralympischen Sommerspiele in Tokio nachgeholt werden. Die Paderborner Wissenschaftlerinnen interessierte eine Einschätzung der Athlet*innen zu diesem Thema. 66 Prozent der Befragten befürworten das Stattfinden der Paralympischen Spiele in diesem Jahr, 34 Prozent sprechen sich dagegen aus. Auf lange Sicht zeigen sich die Befragten optimistischer: Über 90 Prozent befürworten das Stattfinden der Paralympischen Winterspiele 2022. „Er herrscht eine Unzufriedenheit mit der Situation, aber es gibt auch einen gewissen Durchhaltewillen und die Hoffnung auf bessere Zeiten“, sagt Dr. Biermann.

Nachwuchsleistungssportler*innen in den Blick nehmen

Prof. Dr. Radtke betont, dass es wichtig sei, die derzeitige Lage der Sportler*innen der verschiedenen Kaderstufen differenziert zu betrachten: „Im Gegensatz zu den Angehörigen des Paralympics-Kaders, die in Vorbereitung auf die Spiele in Tokio vergleichsweise „normale“ Trainingsbedingungen vorfinden und an Qualifikationswettkämpfen teilnehmen, sind Nachwuchsleistungssportler*innen teilweise mit großen Hindernissen konfrontiert, ihr gewohntes Trainings- und Wettkampfpensum zu absolvieren. Sie erfahren dadurch nicht nur im internationalen Vergleich, sondern auch gegenüber der nationalen Konkurrenz langfristig Nachteile.“ Vor allem für Nachwuchs-Kadersportler*innen sei es problematisch, dass zu Pandemie-Zeiten in den verschiedenen Bundesländern die Nutzung von Trainingsstätten in unterschiedlichem Ausmaß genehmigt wird. Die Tatsache, dass seit einem Jahr keine Talentsuche und -förderung stattfinden kann, werde, so vermutet Prof. Dr. Radtke, weitreichende Konsequenzen im Leistungssport nach sich ziehen.

Unterschiede zu Athlet*innen ohne Behinderung

Auffällig sei, dass über 50 Prozent der befragten Para-Sportler*innen angeben, zur Corona-Risikogruppe zu gehören: Dieser Prozentsatz liegt über dem der Durchschnittsbevölkerung. Zudem bewerten die Befragten ihre eigene Situation anders als die von Athlet*innen ohne Behinderung. „Über 60 Prozent der Befragten aus dem Para-Sport gaben an, dass Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung im Vergleich zu Sportlerinnen und Sportlern ohne Behinderung im besonderen Maße oder auf eine andere Art und Weise durch die Pandemie betroffen sind“, sagt Dr. Biermann. Welche Unterschiede die Para-Athlet*innen  konkret meinen, wird Thema einer in Kürze startenden Interviewreihe sein. Daraus folgend werden praxisorientierte Handlungsempfehlungen für Politik und Sport entwickelt. Zukünftig wollen die Wissenschaftlerinnen auch die Sichtweise von Leistungssportler*innen ohne Behinderung verstärkt in den Blick nehmen. Im Moment bereiten sie eine weitere Online-Umfrage unter allen Kadermitgliedern aus dem olympischen Sport vor, vom Olympiakader bis hin zum Landeskader. „Wir wollen die Belastungs- und Bewältigungsstrategien der beiden Gruppen zu Pandemiezeiten vergleichen“, sagt Prof. Dr. Radtke. Auch die zweite Studie wird vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziert und noch in diesem Jahr starten.

Foto (Universität Paderborn, Besim Mazhiqi): Wissenschaftlerinnen der Universität Paderborn haben in einer Studie langfristige Konsequenzen für den Leistungssport identifiziert, vor allem für paralympische Athlet*innen.

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