„Prävention ist immer besser als Intervention“

Prof. Dr. Sven Lindberg will Kinder mit Lernschwächen gezielter fördern

Die empirische Forschung bringt immer neue Erkenntnisse über die Lernentwicklung bei Kindern. Sven Lindberg, neuer Professor für Klinische Entwicklungspsychologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften, nutzt solche Ergebnisse aus der Verhaltens- und Hirnforschung vor allem, um mehr über die Hintergründe von Lernschwächen herauszufinden und daraus Fördermaßnahmen abzuleiten. Der Spezialist setzt dabei unter anderem auf Computertrainings.

Sven Lindbergs Untersuchungen beginnen bereits vor der Einschulung: In verschiedenen Studien hat er Kinder vom Vorschulalter an begleitet und ihre Lernentwicklung über die Grundschulzeit hinweg verfolgt: „Bestimmte Vorläuferfähigkeiten wie etwa die Unterscheidung größer/kleiner weisen beispielsweise auf spätere Stärken oder Schwächen in der Mathematik hin. Wir wollen herausfinden, welche Verfahren sich am besten eignen, Risiken schnell zu erkennen.“

Hürden und Herausforderungen

Denn, so ist sich der Experte sicher: Prävention ist immer sehr viel wirksamer als Intervention. „Im klassischen Fall werden Auffälligkeiten erst in der Mitte der Grundschulzeit offensichtlich, da in den ersten beiden Schuljahren die Leistungsunterschiede der Schüler/innen ohnehin noch sehr groß sind. Bis dann eine mögliche Legasthenie oder Dyskalkulie diagnostiziert ist und Fördermaßnahmen einsetzen, ist oft sprichwörtlich das Kind schon in den Brunnen gefallen.“

Oft besteht bei solchen Kindern ein hohes Maß an Frustration und es können aggressive oder depressive Störungen zusätzlich auftreten. Zudem verfestigen sich fehlerhafte oder weniger erfolgreiche Lernstrukturen, die mit sehr viel Aufwand verändert werden müssen, um neue und effektivere Vorgehensweisen aufbauen zu können, erklärt Sven Lindberg: „Aber ohne ein förderndes Elternhaus, das sich intensiv einsetzt, ist das sehr schwierig. Und selbst dann sind Lese- und Rechtschreibschwächen leider sehr stabil und bedeuten meist geringere Leistungen ein Leben lang.“

Unterschiedliche Typen von Lese-/Rechtschreibschwächen

Sven Lindberg setzt sich nicht nur für eine frühere Förderung ein, sondern auch für eine individuellere: Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Differentialdiagnostik: „Die gängigen Interventionsprogramme sind oft zu pauschal, ein nicht zu vernachlässigender Teil der betroffenen Kinder reagieren gar nicht darauf. Daher ist Differenzierung sehr wichtig, unterschiedliche Stufen von Lese- und Rechtschreibschwächen zu erkennen und gezielt zu fördern.“

Solche Subtypen müssten in den Klassifikationssystemen besser abgebildet werden, fordert der Wissenschaftler. Generell wünscht er sich, dass die Ergebnisse aus der Forschung schneller in den Förderstrukturen ankommen: „Die Bildungs- und Lernleistungsforschung hat nach dem PISA-Schock enormen Auftrieb bekommen und ist auch durch den internationalen Austausch sehr weit vorangekommen. Aber es dauert zu lange, bis die Erkenntnisse in der Praxis Einzug erhalten.“

Flüssiger lesen dank der Ausblendetechnik

Vielversprechende Fördermöglichkeiten insbesondere auch für Kinder, die von Zuhause wenig Unterstützung bekommen, sieht der Experte in Computerprogrammen. Hier entwickelt er mit seinem Team unter anderem Trainings zur Steigerung der Leseflüssigkeit. Diese arbeiten mit dem sogenannten Beschleunigungsphänomen: Der zu lesende Text wird dabei sukzessive ausgeblendet, Kinder also zum schnelleren Lesen gebracht. „Das klingt im ersten Moment paradox, aber diese Ausblendetechnik hilft den Kindern, sich mehr zu konzentrieren und Fakten abzurufen.“

Der Entwicklungspsychologe erklärt, welche Prozesse dabei im Gehirn verantwortlich sein könnten: „Beim Aufbau von bestimmten Fähigkeiten sind andere Hirnareale aktiv als beim Abrufen von bereits Erlerntem. Wir sprechen von prozedualen Strategien, die ein Kind braucht, um Wissen aufzubauen, das später automatisch abgerufen wird. Der zusätzliche Anreiz des Ausblendeverfahren hilft den Kindern bei dem notwendigen Schritt zur Automatisierung.“

Mit den aus EEG und MRT gewonnenen Erkenntnissen über neuronale Strukturen können die Forscher Entwicklungen besser verorten und schließlich mit gezielten Trainings anstoßen. Inzwischen wissen sie, dass neue Verknüpfungen sich bis ins hohe Alter bilden und damit lebenslanges Lernen möglich machen. Aber die Hirnforschung hat auch ihre Grenzen: „Bei solchen Untersuchungen werden Mittelwerte von gemessenen Hirnaktivitäten von vielen Personen mit bestimmtem Verhalten zusammengebracht und daraus Annahmen abgeleitet, wie ein bestimmter Lernprozess im Gehirn aussehen könnte. Wir sind aber noch weit entfernt davon, die spezifische, individuelle neuronale Entwicklung analysieren zu können.“ Es wird noch einige Zeit dauern, meint Sven Lindberg, bis die Forschung so weit ist, dass Lernstörungen bei einzelnen Kindern auf neuronaler Ebene erkannt und diagnostiziert werden können. Dieser Schritt würde Vorsorge und Therapie jedoch noch einmal entscheidend voranbringen.  

Text: Frauke Döll

Prof. Dr. Sven Lindberg/ Foto: Universität Paderborn, Frauke Döll

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