Inklusion fängt in den Köpfen an

Prof. Dr. Sabine Radtke setzt sich für gleichberechtigte Teilhabe im Sport ein

In der Pädagogik sind der Umgang mit Vielfalt und individuelle Förderung seit Jahren vielfach diskutierte Themen. Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland ist die Diskussion nochmals angeregt geworden. Die zentrale Stellung von Körper und Körperlichkeit im Sport zieht nach sich, dass Diversität und Abweichungen von stereotypen Körperbildern hier im besonderen Maße deutlich werden. Die Sportsoziologin Sabine Radtke ist neue Professorin für Inklusion im und durch Sport an der Fakultät für Naturwissenschaftenund beobachtet seit vielen Jahren den Umgang mit Heterogenität im Schul-, Breiten- und Leistungssport. Mit ihrer Forschung will sie zur Überwindung von Benachteiligungen jeglicher Art beitragen, seien sie aufgrund von phsysischen  und psychischen Beeinträchtigungen, Geschlecht, Ethnie, Religion, Schicht- und Milieuzugehörigkeit oder sexueller Orientierung.

In einer internationalen Vergleichsstudie hat Sabine Radtke beispielsweise den paralympischen Sport unter die Lupe genommen und im Ländervergleich große Unterschiede in den bestehenden Fördersystemen festgestellt. Dies führt sie nicht zuletzt auf eine je nach Land mehr oder weniger vorhandene Grundhaltung der Offenheit und Akzeptanz gegenüber allem, was irgendwie von der Norm abweicht, zurück: „Es wurde deutlich, dass Kanada nicht zuletzt aufgrund seiner Tradition als klassisches Einwanderungsland der Vielfalt in der Gesellschaft und damit zum Beispiel einhergehenden unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen mit einer größeren Natürlichkeit begegnet.“ Deutschland habe viel Nachholbedarf, sagt sie, betont aber, dass auch hierzulande mittlerweile eine positive Entwicklung zu erkennen sei. „Die Nachwuchsförderung ist sehr viel professioneller geworden und man merkt es auch an der Medienberichterstattung bei den Paralympics, die sich weiter von ihrer Defizitorientierung und dem Mitleidsgestus entfernt.“     

Weiter Inklusionsbegriff

Die Entwicklung zur Offenheit gegenüber dem „Anderssein“ sieht Sabine Radtke auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als Generationenprojekt, zu tief sitzen sozialisierte Ideale und die eigenen Ängste vor dem „Fremden“: „Das ist ein langsamer Prozess: Funktionäre, Trainer, Lehrer und Journalisten müssen sich grundsätzlich mit ihren Körper- und Menschenbildern auseinandersetzen, mit den Bildern und Barrieren in ihrem Kopf.“

Dabei geht es bei Inklusion längst nicht nur um Menschen mit Behinderung, betont die Sportwissenschaftlerin: „Es geht grundsätzlich um Menschen, die aufgrund von zum Beispiel Geschlecht, Ethnie, Religion oder sexueller Orientierung benachteiligt werden.“ Eine aktuelle Herausforderung sieht Sabine Radtke beispielsweise im Umgang mit Flüchtlingen im Sport: „Wir müssen herausfinden, welche Vorerfahrungen diese Kinder, Frauen und Männer mit Sport und Bewegung mitbringen und welche Bedürfnisse sie aufgrund kultureller oder religiöser Hintergründe haben, um dann gezielte Angebote zu entwickeln.“  

„Jeder muss sein Erfolgserlebnis haben“

Im Grunde genommen, sagt Sabine Radtke, sei Vielfalt im schulischen und außerschulischen Sport gar nichts Neues, sondern nur die Einsicht, sie nicht als Defizit zu betrachten, sondern ihr mit Wertschätzung zu begegnen und sie auch als Bereicherung zu begreifen: „Die homogene, leistungsbereite Masse hat es im Sportunterricht sowieso noch nie gegeben.“ Mit entscheidend für eine gelingende Gestaltung von inklusivem Sportunterricht sei die positive Haltung der Lehrkräfte. „Sportlehrerinnen und -lehrer müssen ihre Schülerinnen und Schüler in ihrer Individualität wahrnehmen und nicht anhand zugeschriebener Kategorien, die nicht selten stereotype Zuschreibungen nach sich ziehen. Alle Schülerinnen und Schüler müssen in ihrer bewegungsbezogenen Entwicklung individuell unterstützt werden, das heißt, für jeden einzelnen und jede einzelne muss geguckt werden, wo er oder sie steht und welchen Entwicklungsschritt er als nächstes erreichen kann. Allen müssen Erfolgserlebnissen ermöglicht werden.“

So individuell die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, so individuell seien auch die Lehrmethoden. „Es gibt keine Patentrezepte für diese oder jene Behinderung. Natürlich vermitteln wir angehenden Sportlehrkräften didaktische Konzepte für den inklusiven Sportunterricht, aber das A und O ist wirklich die Grundhaltung.“ In ihrer Lehre folgt Sabine Radtke daher zwei Prinzipien: erstens Begegnungen zwischen den Studierenden und Menschen, die von verschiedenen Vielfaltsdimensionen geprägt sind, zu schaffen und zweitens den Studierenden einen Perspektivwechsel zu ermöglichen und dabei selbst „Fremdheit“ zu erleben. „Ich arrangiere beispielsweise Treffen mit Sportlerinnen und Sportlern aus paralympischen Sportarten, wir spielen gemeinsam Rollstuhlbasketball und ich lasse die Studierenden die Erfahrung machen, wie es ist,  einen Tag im Rollstuhl oder blind zu erleben. Es ist großartig, von den Studierenden die Rückmeldung zu erhalten, dass dies zu ihrer Horizonterweiterung beiträgt und dass sie Berührungsängste abbauen.“

Inklusion heißt Strukturen ändern und nicht Menschen

Durch ihre empirischen Erkenntnisse Handlungsempfehlungen zu formulieren und damit positive Veränderungen anzustoßen, die der Praxis zugute kommen, ist das Ziel von Sabine Radtkes Arbeit. Auch in der außerschulischen Forschung ist ihr daher die Praxisnähe besonders wichtig. In Paderborn hat sie bereits zahlreiche Kontakte zu regionalen Sportvereinen und -verbänden geknüpft und schätzt die gute Vernetzung untereinander sehr. „An dieser Uni hat der Integrationssport eine lange Tradition. Bereits vor Jahrzehnten hat Uwe Rheker als Pionier des Integrationssports ein integratives Familiensport-Modell initiiert, das deutschlandweit Nachahmung fand. Inzwischen bahnt sich auch im Sport der Paradigmenwechsel von Integration zu Inklusion an, was bedeutet, dass nicht mehr die Menschen gezwungen sind, sich den gegebenen, normierten Strukturen anzupassen, sondern dass vielmehr umgekehrt die Sportstrukturen auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmt werden müssen.“

Die Tatsache, dass sie mit ihren Themen in Paderborn an eine langjährige Tradition anknüpfen kann, betrachtet Sabine Radtke als sehr positiv und mit den Kollegen/innen und regionalen Partnern will sie weitere Projekte anstoßen. Aus aktuellem Anlass plant sie derzeit eine empirische Untersuchung zum Thema Sport und Flüchtlinge und konzipiert eine Pilotstudie für den Paderborner Raum. Parallel ist eine internationale Vergleichsstudie in Kooperation mit zwei britischen Universitäten in Vorbereitung. Darüber hinaus will sich Sabine Radtke langfristig mit einem bislang weitestgehend unerforschten Themenfeld auseinandersetzen, mit „Homophobie im Sport“.

Text: Frauke Döll

Prof. Dr. Sabine Radtke/ Foto: Universität Paderborn, Frauke Döll

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